kiew, bedrohte stadt
Am 15. Februar, etwas mehr als eine Woche vor Beginn der russischen Großinvasion, war ich zum letzten Mal im Archiv des ukrainischen Geheimdienstes SBU. Als ich mich von der Lesesaalaufsicht verabschiedete und ihr sagte, ich hoffe, bald zurückkehren zu können, blickte ein älterer Nutzer auf. Wo ich denn herkomme. „Aus Berlin“, antwortete ich. "Ach so", sagte er und schaute wieder in seine Akten, "aus Deutschland. Na, großartig. Ihr Deutschen schickt uns 5000 Helme, und die Russen lassen demnächst Raketen auf uns niederregnen." Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mich für mein Land geschämt und für meine Regierung, die der Ukraine die angeforderte Unterstützung mit Hinweis auf unsere Geschichte versagte – auf eben jene Geschichte, die ich gerade in Kiew erforschte.
Ich war vier Wochen lang in der ukrainischen Hauptstadt, bis ich meinen Aufenthalt vorzeitig abbrechen musste. Vom ersten Tag an spürte ich den eigentümlichen Schwebezustand, in dem sich das ganze Land befand. Der Alltag in der großen Metropole lief weiter, ungeachtet der immer bedrohlicheren Nachrichten. In meinem Lieblingscafé um die Ecke, in das ich nach der Arbeit oft einkehrte, saßen junge Leute gemeinsam an Laptops und arbeiteten an irgendwelchen Layouts, im krimtatarischen Restaurant Musafir rief man abends besser vorher an, ob ein Tisch frei war, und im Multiplex oben im Kaufhaus „ZUM“ am Prachtboulevard Kreschtschatik deckten sich die Leute vor dem Film mit Popcorn ein.
Im persönlichen Gespräch hingegen bot sich ein anderes Bild. Zwar blieb der offen ausgesprochene Pessimismus des Nutzers im SBU-Archiv die Ausnahme, Illusionen machte sich aber niemand. „Eine Großinvasion mag unvorstellbar erscheinen“, sagte dort eine Mitarbeiterin zu mir, „aber das waren die Besetzung der Krim und der Krieg im Donbas vorher ebenfalls.“ Alles sei möglich, meinte auch ein Freund: Putin denke nicht in den rationalen Maßstäben, an denen wir unser Handeln ausrichteten, daher könne man bei ihm nichts ausschließen. Sein Vater, Jahrgang 1938, dachte anders. Bei einem gemeinsamen Abendessen in der Plattenbauwohnung in der großen Trabantensiedlung auf dem linken Dnjepr-Ufer erklärte er, Putin habe doch gesagt, es werde keinen Krieg geben, also werde das auch so stimmen. Bis Januar dieses Jahres hatte er noch in Sewastopol auf der Krim gewohnt und war von seinem Sohn auf einer sehr mühsamen Reise nach Kiew geholt worden.
Bei den meisten jener, mit denen ich über ihre Einschätzung der Lage sprach, zeigte sich eine Mischung aus Fatalismus und Zuversicht. Einen Uber-Fahrer sprach ich auf die Kritik an, Zelenskij spiele die Gefahr einer Invasion herunter. Er stellte die Gegenfrage: Was der Präsident denn sonst tun solle – das Land etwa durch die Ausrufung des Ausnahmezustands destabilisieren und Putin einen Sieg zu verschaffen, ohne dass dieser überhaupt angreifen müsse? Die Armee stehe doch an der Grenze bereit. Bei einer Wochenendwanderung durch die Außenbezirke machte ich Pause an einem Unterstand bei einem großen Güterbahnhof. Eine Gruppe Eisenbahner kam für eine Rauchpause vorbei, und einer von ihnen – Jurij, Ende Fünfzig – erzählte von seinem Dienst als junger Rotarmist in Tschechien. Seine alten Kameraden von damals aus Russland und dem Donbas, mit denen er noch häufig im Urlaub war, haben nach 2014 den Kontakt abgebrochen. Wenn die Russen angriffen, so erklärte er, werde er zu den Waffen greifen und sein Land verteidigen. Die ukrainischen Streitkräfte seien viel besser als 2014, man sei jetzt vorbereitet und es gebe viele kampferprobte Männer. Das war der Grundton, der sich durch diese Gespräche zog und nur zuweilen von bangen Überlegungen durchbrochen wurde, eine Großinvasion könne zum Dritten Weltkrieg führen.
Wie die Menschen um mich herum habe ich mich bemüht, die Kriegsgefahr möglichst aus meinem Alltag fernzuhalten. Zu Fuß erkundete ich nach der Arbeit die Stadt, lief durch Gründerzeitviertel, zwischen deren Altbauten protzige Wohnhochhäuser emporwachsen, klapperte die wunderbaren Markthallen aus Sowjetzeiten mit ihren kühn geschwungen hyperbolischen Dächern ab und ging die Strecke nach, auf der die Kiewer Jüdinnen und Juden im September 1941 aus dem Stadtzentrum nach Babyn Jar gehen mussten und dort ermordet wurden. Es sind nur etwa anderthalb Stunden. Dort draußen drängte sich der gegenwärtige Krieg wieder ins Bild: Direkt neben der Mordstätte befinden sich ausgedehnte historische Friedhöfe – auf einem davon liegen in erster Linie Militärs, darunter die in der Ostukraine Gefallenen. Sie liegen in einer Ecke des Gräberfeldes direkt unter dem Fernsehturm, den die russischen Streitkräfte inzwischen mit Raketen beschossen haben. Auf die Grabsteine aus poliertem schwarzem Granit sind die Bilder der Gefallenen teilweise in Lebensgröße eingraviert – mit ukrainischen und mit russischen Inschriften. Die Erinnerung an die Opfer finden sich an vielen Orten der Stadt. Neben der großen Umfassungsmauer des Michaelsklosters, an die alle Fotos der bislang im Krieg mit Russland Gefallenen angebracht sind, gibt es zahlreiche Gedenktafeln an Wohnhäusern für die im Donbas oder im Februar 2014 auf dem Majdan Getöteten. Man kann davon ausgehen, dass russische Besatzer diese Denkmaltopografie als erstes auslöschen werden.
Doch nicht allein das öffentliche Gedenken, sondern auch die wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte ist nun gefährdet. Die ukrainischen Archive haben sich in einem Ausmaß geöffnet, das für Russland längst unvorstellbar ist. Als ich 1999 ein Forschungsprojekt über die Beziehungen zwischen deutschen und sowjetischen Kommunisten in der Weimarer Republik begann, war der bisherige Chef des russischen Inlandsgeheimdienstes Putin gerade zum Ministerpräsidenten ernannt worden. Und schon bald schloss sich der Zugang zu wichtigen Aktenbeständen in Moskau. Andere blieben von vorneherein unzugänglich. In Kiew hingegen war es mir nicht nur möglich, im ehemaligen Parteiarchiv und dem Zentralen Staatsarchiv zu forschen, sondern eben auch im Archiv des ukrainischen Geheimdienstes SBU, das immer mehr Unterlagen geöffnet hat – von denen der GPU (wie die sowjetische Geheimpolizei in den 1920er Jahren hieß) bis zu denen des KGB aus dem Jahr 1991. Hier habe ich etwa einen Bericht der Moskauer GPU-Zentrale über die NSDAP vom März 1932 gefunden, es gibt allein 45 Bände über das deutsche Generalkonsulat in Kiew, von denen ich stichprobenartig drei eingesehen habe – mit detailliertem Material über die Observation des Generalkonsuls, abgefangene Korrespondenz und Berichten über die Reaktion des Konsulats auf die „Machtergreifung“ von 1933. Für mein Projekt über Kiew im Jahrzehnt der Gewalt zwischen 1937 und 1947 erwiesen sich u.a. die Stimmungsberichte des NKVD als wertvoll sowie die Strafakten ehemaliger Hilfspolizisten und von Personen, die als vermeintliche Kollaborateure denunziert worden waren, weil sie unter deutscher Besatzung in einer Soldatenkantine gearbeitet hatten. Auch die Personalakten der NKVD-Angehörigen und Geheimdienstinformanten wurden herausgegeben. Im Falle einer russischen Besetzung Kiews wäre dieses Material großteils oder vollständig für die Forschung verloren – falls es nicht gleich gezielt oder durch Kriegszerstörungen vernichtet wird. Die vermeintliche „Denazifizierung“ der Ukraine durch Putin würde dazu führen, dass die Forschung über die NS-Besatzung blockiert wird.
Am Montag nach meinem ersten Wochenende in Kiew blieb der amerikanische Doktorand, der zeitgleich mit mir seine Arbeit im Zentralen Staatsarchiv begonnen hatte, dem Lesesaal fern. Er war der Empfehlung seiner Regierung gefolgt, das Land zu verlassen. Ich kaufte mir drei Wochen später einen Fahrschein für den Nachtzug nach Warschau, als die USA begannen, ihre Kommunikationsanlagen abzubauen. Den letzten Sonntag nutzte ich, um den immer wieder aufgeschobenen Besuch im Nationalmuseum und im Chanenkiv-Museum für westeuropäische und ostasiatische Kunst nachzuholen. 1942 hatten SS- und Wehrmachtsoffiziere die Schausammlung für ihre Büros und Privaträume geplündert, viele Werke sind seitdem verschollen. Nun ging ich durch die Räume, im bangen Bewusstsein, dass diesen Institutionen möglicherweise neuerliche „kriegsbedingte Verluste“ bevorstehen.
Als ich nach dem letzten Arbeitstag im SBU-Archiv auf die Straße trat, schien in Kiew auf geradezu unwirklich schöne Art die Abendsonne. Ich hatte noch etwas Zeit bis zur Abfahrt des Zuges und beschloss, auf den Schlossberg zu steigen, um ein letztes Mal die Aussicht auf die Unterstadt Podil zu genießen. An der sonst einsamen Aussichtsstelle stand ein junges Paar von Anfang zwanzig. Ich entschuldigte mich für die Störung, doch sie verwickelten mich gleich in ein Gespräch. Dieses Mal erntete ich ein Strahlen über das ganze Gesicht, als ich beantwortete, woher ich komme. „Aus Berlin! Und du bist noch hier…?“ Etwas verlegen gestand ich ein, dass mein Zug in anderthalb Stunden abfuhr. Sie winkten aufmunternd lächelnd ab und boten mir von ihren selbstgebackenen Keksen an.
Ich muss immer wieder daran denken, wo die beiden jetzt wohl sind, wie es ihnen geht. Derweil sitze ich an meinem Computer, lese in den Dokumenten, die ich in Kiew abfotografiert habe. Das letzte war ein Bericht über die Verteidigung Kiews im August und September 1941 durch hastig aufgestellte Milizen aus Studierenden, Arbeitern und Angestellten, den Bau von Panzersperren und Barrikaden. Es fallen die Namen der Kleinstädte rings um Kiew: Vasilkiv, Irpin, Butscha… Ich schaue in die Zeitung, auf Twitter – und finde diese Namen in den aktuellen Nachrichten.